Norwegen verpackt seine topografischen Hochs und Tiefs auf einzigartige Weise, unterwandert sie mit vielen Tunnels und garniert das Ganze mit Kunst am Straßenrand. Wir kurvten im Cabrio durch das Fjordland nördlich von Bergen und erlebten bei unserer Rundreise einen entschleunigenden Crashkurs in 10 Lektionen
Lektion 1: Auch im Regenreich scheint mal die Sonne
Während Deutschland Anfang Mai im Regen versinkt, beschert uns Bergen, die regenreichste Großstadt Europas, zum Start der Cabrio-Rundreise ein unerwartetes Problem: Sonnenbrand. Wer denkt bei Norwegen zu dieser Jahreszeit an Sonnencreme mit Lichtschutzfaktor 30? Strahlend blauer Himmel und Temperaturen von mehr als 25 Grad herrschen an der Westküste, als wir zum Event #kurvedeineslebens starten. Vor uns liegen fast 1.000 Kilometer kurvige Landstraße „oben ohne“.
Auf der Fahrt zum Hardangerfjord, der mit 170 Kilometern und 725 Metern einer der längsten und tiefsten Fjorde des Landes ist, passieren wir bei Eikedalen noch verschneite Landschaften und zugefrorene Seen, während die Sonne auf Nase und Nacken brennt. Die Hitze lässt die Schneedecke schmelzen. Neben der Straße stürzen alle paar Meter gewaltige Schmelzwasserfälle über Felsflanken in die Tiefe.
Lektion 2: Berge sind zum Durchbohren da
Weit mehr als Kurven und ein paar Spitzkehren prägen Tunnel das Fahrerlebnis. Dort warten Überraschungen wie etwa spacig illuminierte Kreisverkehre im Tunnel unter Hunderten Metern Fels. So bei der Fahrt von Gravin zur Brücke Hardangerbrua, die sich über den Eidfjord spannt, der an dieser Stelle 500 Meter tief ist.
Der dortige Vallavik-Tunnel weckt kurzfristig den Verdacht, man habe irgendein halluzinogenes Zeugs geraucht: Plötzlich leuchtet in der Ferne ein überirdisches Blau und das Navi befiehlt „Den Kreisverkehr in der ersten Ausfahrt verlassen!“. Klar, dass wir ein paar extra Guggst-du-Runden drehen. Beinahe gruselig ist die Fahrt durch den längsten Straßentunnel der Welt.
Der vor 17 Jahren eröffnete Lærdals-Tunnel ist ein einröhriges, über weite Strecken dunkles Loch von 24,5 Kilometer Länge. Für Tunnel-Phobiker die Hölle auf/unter Erden. Verglichen mit dem Lærdals sind deutsche Tunnel eine Orgie an Lichtmarkern, raffinierter Beleuchtung und Sicherheitshinweisen. Die Tunneltester des ADAC würden hier vermutlich einen Nervenzusammenbruch erleiden.
Das erotische Verhältnis der Norweger zu Tunnels (in Realität geht es natürlich darum, wichtige Landverbindungen winterfest zu machen) gipfelt im unlängst publik gewordenen Plan, durch die häufig sturmgepeitschte Halbinsel Stadlandet einen 1.700 Meter langen Tunnel für Kreuzfahrt- und Frachtschiffe zu treiben.
Lektion 3: Wasser Marsch überall in Norwegen
Der erste veritable Wasserfall, den wir während unserer Rundreise passieren, ist der mit 50 Metern gar nicht so hohe Steinsdalsfossen, hinter dessen Wasservorhang man vorbeimarschieren kann. Aber das Land kann es noch wilder: Neu der weltweit 20 höchsten Wasserfälle tosen in Norwegen in die Tiefe. Über 60 sehenswerte Wasserfälle listen die Touristikwerber auf, nicht wenige davon mit Fallhöhen von über 200 Metern, wie der Vettis (275 Meter), der 400 Meter hohe Hengjanefossen im Lysefjord oder der insgesamt 818 Meter in die Tiefe donnernde Ramnefjellsfossen gut 300 Kilometer nordöstlich von Bergen.

Wasser marsch! Während der Schneeschmelze kommen zu den üblichen Wasserfällen noch jede Menge Pop up-Fälle hinzu
Lektion 4: Bremsspuren retten deine Haut
Viele Straßen entlang der Fjorde sind eng, sehr eng und kurvig. Wer zu flott um die Kurve fährt, riskiert üble Crashs, denn Ausweichen ist unmöglich: auf der einen Seite steile Felswände, auf der anderen Leitplanke oder der Fjord. Deshalb Augen auf den Asphalt. Bei dicken, langen Bremsspuren ist höchste Vorsicht angebracht. Auch bei Serpentinenfahrt hoch zum fulminant gelegenen Aussichtspunkt Stegastein.
Lektion 5: Kunst am Straßenrand muss sein
Besagter Stegastein liegt sechs Kurvenkilometer oberhalb des kleinen Orts Aurlandsvangen. Der 30 Meter lange Holzsteg, den am Ende eine Glasplatte abschließt, ragt 650 Meter über dem wunderschönen Aurlandsfjord weit in die Luft hinaus. Der Blick? Wahnsinn. Oben eine dicke Schneedecke auf den Bergen, auf dem Wasser unter uns kreuzen Segler im Wind.
Weitere Höhepunkte der Rundreise in Sachen Kunst am Wegrand: Das Trollstigen-Plateau, das goldene Klohaus an der Panoramastraße über die Insel Senja, der Panoramabalkon Ørnesvingen mit tollem Blick über den Geirangerfjord an den elf Haarnadelkurven der „Adlerstraße“ zwischen Geiranger und Trollstigen, die rostfarbenen Treppen am berühmten Wasserfall Svandalsfossen, die Stahlbrücke über den Likholefossen, die Rastboxen am Snefjord und der Atlanterhavsvegen mit seiner elegant geschwungenen Storseisund-Brücke.

Atlanterhavsvegen mit seiner elegant geschwungenen Storseisund-Brücke
Es gibt noch viele Strecken, auf denen man zur Fjordbewegung auf Fähren angewiesen ist. Das sorgt besonders bei Sonnenwetter für schöne Breaks. Die schönste Passage ist die von Hellesylt nach Geiranger, eine Panorama-Orgie vom Feinsten.
Lektion 6: Mit Schneesperren im Mai rechnen
Da die Winter lang sind, ist es normal, dass man bis Mitte Mai und ab Mitte September die geplante Route der Rundreise ändern muss, weil Panoramastraßen wie Trollstigen oder Aurlandsfjellet wegen meterhohem Schnee unpassierbar sind.

Wir müssen leider umdrehen – der Aurlandsvegen ist wegen Schnee noch gesperrt
Lektion 7: Erdöl ist gut für die Umwelt
Es ist paradox. Der immense Reichtum Norwegens basiert seit Jahrzehnten auf der Erdöl- und Erdgasförderung. Das Land verdiente bis zum Absturz der Rohölpreise Mitte 2014 mit fossilen Brennstoffen jedes Jahr zig Milliarden – und setzt einen Teil des Geldes für die massive Förderung der Elektromobilität und erdgasbetriebener Fähren ein.
Ab 2020 dürfen in Norwegen keine Diesel- und Benzinfahrzeuge mehr verkauft werden. Im Gegenzug tut die Regierung alles, um den Anteil von Elektroautos bei den Neuzulassungen massiv zu steigern, der aktuell bei über 17 Prozent liegt. Deren Fahrer kurven im Gegensatz zu deutschen E-Mobilisten mit gutem grünem Gewissen durch das Land, stammen doch 96 Prozent des Stroms aus der Wasserkraft.
Lektion 8: Norweger können nicht nur Lachs
Kaum zu glauben, aber so hoch im Norden, vor allem in der Umgebung von Ullensvang, werden massenweise Äpfel angebaut. Fährt man zwischen dem Fjord auf der einen und den Apfelplantagen auf der anderen Seite dahin, wähnt man sich fast in Südtirol oder im Trentino. Im Geirangerfjord wurden früher gar Aprikosen angebaut.
Auch am Sognefjord, der durch den Golfstrom mild temperiert wird, gibt es zahlreiche Obstplantagen. Der Fjord ist übrigens mit 204 Kilometer Länge und mit bis zu 1.300 Meter Tiefe Rekordhalter in Europa. Bis zu 1.000 Meter hoch ragen die gewaltigen Felswände empor, die den Fjord säumen.
Lektion 9: Norweger können auch „bähhh!“
Überhaupt nicht in dieses idyllische Bild einer idealen, entspannten, auf sozialen Frieden und saubere Umwelt fixierten Gesellschaft passt, dass Norwegen unberührt von internationaler Kritik pro Jahr für kommerzielle Zwecke mehr Wale erlegt als Japan und Island zusammen. 1.286 Minkwale fielen 2015 dieser „kulturellen Traditionspflege“ zum Opfer. Ein bedeutender Teil des Walfleischs geht nach Japan – oder endet als Kraftfutter. Ein Ende ist nicht abzusehen. Im Februar verkündete Fischereiminister Per Sandberg, dass Norwegen für 2017 insgesamt 999 Zwergwale zum Abschuss freigegeben habe.
Lektion 10: Schnell den Geirangerfjord besuchen
Lars Blikra ist Geologe im Auftrag der norwegischen Regierung und überwacht den Berg Åkernes. „Gut 13 Kilometer vom Hafenort Hellesylt sind 54 Millionen Kubikmeter Gestein in Bewegung geraten“, weiß der Experte.
Irgendwann wird diese unfassbare Menge den Hang hinabstürzen und eine Todeswelle von 80 Meter Höhe auslösen. Dieser Tsunami wird sowohl ins Ende des Fjords als auch aufs offene Meer hinausdonnern und alles mit sich reißen. Preise für Immobilien, die weniger als 80 Meter über dem Wasser stehen, sinken Jahr für Jahr in immensem Tempo. Die Regierung hat ein Frühwarnsystem installiert.
